Sozialer Druck führt zu immer mehr Anträgen in der Pflegeversicherung. Der BKK-Landesverband NORDWEST plädiert für einen ganzheitlichen Lösungsansatz und findet dafür Mitstreiter unter den Experten: So fordert der Medizinischen Dienst Bund eine Flexibilisierung der Pflegebegutachtung, um auch in Zukunft den zeitnahen Leistungszugang für die Versicherten sicherstellen zu können.
Immer mehr pflegebedürftige Menschen oder deren Angehörige sehen sich in der Situation, einen Pflegegrad zu beantragen. Die Medizinischen Dienste der einzelnen Bundesländer stehen einer dramatisch steigenden Anzahl von Anträgen gegenüber, so auch im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW.
Laut aktueller Pflegestatistik gibt es in NRW rd. 1,2 Mio. pflegebedürftige Menschen, das sind knapp 7 % der Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen bezog ausschließlich Pflegegeld (55 %). Das heißt, die Versorgung erfolgte über selbst organisierte Pflegehilfen. Einen ambulanten Pflegedienst nahm knapp ein Fünftel (19,7%) in Anspruch, während 14 % der Pflegebedürftigen in vollstationärer Dauer- oder Kurzzeitpflege versorgt wurden. Die meisten Pflegebedürftigen hatten den Pflegegrad 2 (41,8 %) oder 3 (28,4 %)
Allerdings wurden im Jahr 2023 zu 2022 fast 17% mehr Geldleistungen beantragt. Grund hierfür könnte sein, dass die größte Mehrheit der Pflegebedürftigen (nämlich 86%) im häuslichen Umfeld versorgt wird.
Die Zahlen der Pflegeanträge in NRW spiegeln sich auch im bundesweiten Trend wieder. Die Anzahl der Menschen, die Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung beziehen, steigt dramatisch an: 2016 waren nach dem statistischen Bundesamt 3,1 Mio. Menschen pflegebedürftig. Das statistische Bundesamt geht in seinen Berechnungen von bis zu 5,4 Mio. Ende 2023 aus. Das entspricht einem Anstieg von über 70 %. Bis 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen auf 6,1 Mio. prognostiziert.
Offensichtlich hat diese Entwicklung aber weniger damit zu tun, dass mittlerweile jede fünfte Person in Deutschland älter als 66 Jahre ist. „Der demografische Wandel allein reicht als Erklärung nicht aus. Vielmehr spielen soziale Faktoren eine wesentliche Rolle“, erklärt Dr. Dirk Janssen, Vorstand des BKK-Landesverbandes NORDWEST. „Sozialer Druck bringt Menschen immer früher in die Pflege. Die gestiegenen Inflationsraten und Krisen der vergangenen Jahre haben einen zusätzlichen Schub bei den Anträgen bewirkt.“
Neben bestehenden Forderungen wie der Komplettdigitalisierung des Antragverfahrens, der Verschlankung der Gutachten und dem Verzicht auf Wiederholungsbegutachtungen plädiert der BKK-Landesverband NORDWEST für eine systemische Veränderung. Die Menschen müssten ganzheitlicher beraten werden, etwa über mögliche Ansprüche auf Wohngeld, so Janssen. Hier kämen die Kommunen mit ins Spiel. Denkbar wäre, ein kommunales Case-Management aufzusetzen. Über dieses könnten Case-Manager in Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst oder den Krankenkassen entsprechende Beratungen als Ganzes auf den Weg bringen.
Der BKK-Landesverband NORDWEST spricht sich für eine systematische Ausweitung um die anderen Ersatzleistungen und die Beratung aus. Diese dürfen in der Beratungslandschaft nicht aufgesplittert jede für sich stehen. „Es braucht jemanden, der über den Tellerrand schaut und nicht nur jeweils zu Wohngeld, Pflegeversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung berät, sondern die Menschen mit ihren Bedarfen ganzheitlich im Blick hat. Denkbar ist auch eine Steuerung über die Hausärzte“, erklärt Janssen.
Die gestiegenen Anträge spiegeln sich auch in den Begutachtungszahlen des Medizinischen Dienstes wider. Wenn Versicherte einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung stellen, so sind sie vom Medizinischen Dienst zu begutachten. Die Gutachterinnen und Gutachter stellen dabei den Grad der Pflegebedürftigkeit fest. 2016 hat der Medizinische Dienst 1,8 Mio. Versicherte begutachtet; 2023 waren es nach vorläufigen Zahlen rund 3 Mio. Begutachtungen − das entspricht einer Steigerung von knapp 70 %.
Carola Engler, stellv. Vorstandsvorsitzende Medizinischer Dienst Bund: „Der Medizinische Dienst hat das Ziel, eine hochwertige und zeitnahe Pflegebegutachtung sicherzustellen. Die Menschen brauchen einen zeitnahen Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung. Damit das gelingt, ist die Flexibilisierung der Pflegebegutachtung erforderlich: Neben dem Hausbesuch müssen wir auch Telefon und Video in der Breite einsetzen können. Und dort wo es möglich ist, sollten wir auch nach vorliegenden Informationen unkompliziert begutachten können. Selbstverständlich ist dabei der Wunsch der Versicherten zu berücksichtigen.“
Weitere Hintergrundinformationen:
(Die Zahl der Einwohner in NRW wird von aktuell 17,9 Mio. bis 2025 auf 17,6 Mio. Menschen zurückgehen und 2070 einen Stand von 17,4 Mio. erreichen. Dabei wird sich die demografische Alterung in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen.
Das Durchschnittsalter der NRW Bevölkerung wird von 44,3 Jahren auf 46,2 Jahren in 2050 ansteigen.
Die Zahl der Pflegebedürftigen in NRW wird bis 2050 auf knapp 1,6 Mio. und damit um rd. 30 % höher liegen als 2021 (1,2 Mio.).
Davon werden in Zukunft die meisten pflegebedürftigen ausschließlich Pflegegeld beziehen, den Pflegegrad 2 haben und im Alter von 80 bis 89 Jahren sein.)